Die Schachautomaten des Torres Quevedo

Die Schachautomaten des Torres Quevedo

Hans-Peter Ketterling

Eine der schöpferischsten Erscheinungen, die vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts bis weit in unser Jahrhundert hinein wirkte, war der spanische Gelehrte, Ingenieur und spätere Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften in Madrid Torres Quevedo (1852 – 1936), der neben vielen anderen Dingen ebenfalls eine große Anzahl von mathematischen Apparaten entworfen und gebaut hat. Er schuf auch die erste echte Schachmaschine, mit der er demonstrieren wollte, daß künstliche Systeme selbständig sinnvoll auf sich ändernde Situationen reagieren können. Neben rein mechanischen Hilfsmitteln bediente er sich auch elektromechanischer, also Relais und Motoren, und erarbeitete auch Konzepte für digitale Rechenmaschinen. Viele seiner Erfindungen, darunter auch die beiden, allerdings nicht mehr funktionsfähigen, Schachmaschinen befinden sich heute in einem kleinen Museum in der Escuela Tecnica Superior de Ingenieros de Caminos, Canales y Puertos in Madrid, wo ich sie im Mai 1981 selbst in Augenschein nehmen konnte.

Zur gleichen Zeit, als die Nachfahren des ersten Türken noch immer Furore machten, hat Torres Quevedo 1890 den erfolgreichen Versuch begonnen, einen echten Schachautomaten zu bauen. Dabei handelte es sich um eine auf elektromechanischer Basis arbeitende Maschine, welche die Mattführung des schwarzen Königs mit weißem König und Turm aus beliebigen Stellungen bewältigt, wenn auch beileibe nicht in der kürzest möglichen Zahl von Zügen. Schon dieses im Prinzip sehr einfache Endspiel erfordert einen sehr hohen Konstruktionsaufwand, so daß die von Torres Quevedo angewandten mechanischen und konstruktiven Prinzipien bereits bei der Mattführung durch König und zwei Läufer auf praktisch kaum noch lösbare Schwierigkeiten führen würden. Torres hatte die Mattführung auf einen einfachen Satz von Regeln zurückgeführt, die einen (allerdings suboptimalen) Algorithmus repräsentierten, den er mit einer Relaislogik realisierte. Hinzu kamen noch elektromechanische Vorrichtungen, welche die Bewegungsabläufe der Figuren feststellten und steuerten. In der Maschine steckten einige für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Ideen – Hauptzweck des Ganzen war es jedoch, die Aufmerksamkeit auf Torres‘ Automatentheorie zu lenken, die schon eine Reihe praktischer Anwendungen in Form verschiedener nützlicher Maschinen gefunden hatte.

Schon damals begann man, Automaten und Regelsysteme für industrielle Prozesse in Betracht zu ziehen. Die verschiedensten Fertigungsautomaten, beispielsweise Druckmaschinen und Werkzeugmaschinen, wiederholen ständig einfache Bewegungen und enthalten im Wesentlichen mechanische Getriebe. Ein klassisches Beispiel ist der kurvenscheibengesteuerte Drehautomat. Auch mechanische Regelkreise, wie Fliehkraftregler in Dampfmaschinen sind schon lange in Gebrauch (James Watt um 1770), sie gehören zu solch einfachen Systemen, in denen ständig ein und derselbe Prozeß geregelt wird. Daß man diese Erkenntnisse inzwischen weiter verfeinert und unter anderem auch auf komplizierte elektronische Systeme angewandt hat, braucht wohl kaum noch erwähnt zu werden.

Wie schon ein halbes Jahrhundert zuvor für Babbage war das Schachspiel für Torres Quevedo ein Prüfstein der künstlichen Intelligenz, und es bot ihm eine exzellente Möglichkeit zu zeigen, daß Automaten auf einen Startbefehl hin nicht wie eine Spieluhr immer nur die gleichen Handlungen ablaufen lassen können, sondern daß sie auch aktuelle und sich dauernd ändernde Informationen sinnvoll verarbeiten können, wenn sie entsprechend ausgelegt sind. Sie müssen hierzu über ein geeignetes Programm verfügen, das auch wie bei Torres(apos;) Automaten hardwaremäßig realisiert sein kann. Es muß aber imstande sein, alle vorkommenden Eingangsparameter-Kombinationen sinnvoll zu verarbeiten und daraufhin die erforderlichen Ausgangsreaktionen zu erzeugen. Außerdem müssen die das Programm darstellenden Regeln eindeutig sein, um die Handlungen des Automaten zu jeder Zeit ohne Mehrdeutigkeiten festzulegen. (Bei Schachcomputern ist allerdings meist ein Zufallsgenerator vorgesehen, der dafür sorgt, daß in gleichen Positionen eben nicht immer die gleichen Züge geschehen, um die Reproduzierbarkeit von Partien einzuschränken und vor allem, damit man die Maschine nicht zwangsläufig immer wieder in die gleiche Falle locken kann).

Der erste noch vergleichsweise einfache Schachautomat wurde 1912 fertiggestellt und bewies sowohl, daß die von Torres gewählten elektromechanischen Bauelemente das gestellte Problem zu lösen gestatteten, als auch, daß seine allgemeine Automatentheorie auf sicherer Grundlage stand. Torres Quevedo leitete damals das Laboratorio de Automatica in Madrid, das 1906 von der spanischen Regierung gegründet worden war. Er führte dort Untersuchungen über Rechenmaschinen durch und baute das Modell eines Luftschiffes, Lehrmaschinen und Maschinen für wissenschaftliche Untersuchungen an anderen staatlichen Laboratorien, wodurch er aller finanziellen Probleme ledig war. Kurz nach ihrer Fertigstellung wurde die Schachmaschine in Bilbao und Sevilla gezeigt sowie anläßlich einer Konferenz der spanischen Gesellschaft für den wissenschaftlichen Fortschritt in Valladolid vorgeführt. 1914 wurde die Maschine schließlich in den Laboratorien für experimentelle Medizin an der Pariser Sorbonne gezeigt.

Die zweite größere und wesentlich komfortablere Maschine, auf der man den schwarzen König wie auf einem normalen Schachbrett ziehen konnte, wurde 1920 vollendet und in Paris gezeigt. Der Automat erkannte die Position des schwarzen Königs dadurch, daß dessen metallisch leitender Fuß die beiden Hälften des diagonal geteilten Feldes verband, dessen metallische Beläge mit je einem Linien- und einem Reihendraht in Verbindung standen, so daß der damit zustande kommende Stromkreis eindeutig die Position des schwarzen Königs zu bestimmen gestattete. Bei der Ausführung seines Antwortzuges bewegte der Automat den weißen König oder Turm durch unterhalb des Brettes geführte Elektromagnete. Bot der Automat Schach, so ließ er mittels einer grammophonartigen Einrichtung „Jaque al Rey“ ertönen, beim Matt kam zusätzlich eine Leuchtanzeige „Mate“. Fehler des menschlichen Spielers wurden mit einer Leuchtschrift „1a EQUIVOCATION“ (erster Fehler) quittiert, und der Automat setzte das Spiel erst nach Korrektur des Fehlers fort. Analog verfuhr er beim zweiten Fehler und zeigte dann „2a EQUIVOCATION“. Nach dem dritten Fehler zeigte er „3a EQUIVOCATION“ und weigerte sich weiterzuspielen.

So raffiniert dieser Schachautomat auch gebaut war, in ihm wurde die Mattführung als geometrisches Problem interpretiert und jeder Zug des menschlichen Spielers löste eine Anwort des Automaten aus, der sie wie eine Rechenmaschine zwangsläufig aus dem eingegebenen Zug ableitete. Der strategische Plan des Automaten ist in der Form eines Algorithmus realisiert, den man in einem Flußdiagramm sehr übersichtlich darstellen kann. König und Turm werden so geführt, daß Schwarz irgendwann in die Opposition gehen muß, wenn er es nicht schon vorher freiwillig tut. Dann erfolgt ein Flankenschach und der schwarze König wird eine Reihe zurückgedrängt. Daraufhin wird wieder die Opposition durch Königszüge und Tempozüge mit dem Turm herbeigeführt, bis schließlich das Matt erzwungen werden kann. Aus der ungünstigsten Stellung erfordert die Mattführung gegen bestes Gegenspiel etwas über 60 Züge, was nach den FIDE-Regeln remis durch Überschreiten der Fünfzig-Züge-Grenze wäre. Man weiß schon länger, daß bei optimalen Spiel beider Parteien sechzehn bis siebzehn Züge genügen und hat inzwischen durch Computeranalysen gezeigt, daß sechzehn Züge tatsächlich ausreichen.

Torres Quevedo hat erstaunlicherweise selbst nichts über seine Schachautomaten publiziert, aber der französische Wissenschaftler Henri Vigneron hat 1914 in der Zeitschrift La Nature einen sehr ausführliche Artikel mit einer genauen Beschreibung veröffentlicht.

(Auszug aus einem am 9. Juni 1997 im Computer & Videospiele Museum Berlin gehalten Vortrag)

Hans-Peter Ketterling